Texte über Reiner Bredemeyer


Friedrich Goldmann

MusikTexte, Zeitschrift für Neue Musik, Heft 62/63,

Köln, 1996, S. 25.

Nie ganz zu Hause

Bei Reiner Bredemeyers Begräbnis am 13. Dezember 1995 in Berlin erklangen zwei Solo-Stücke von ihm sowie zwei schnelle Mozart-Sätze. Das hatte er wohl selbst so gewünscht. Schnelligkeit, auch beim Abschied, gehörten zu ihm, zu seinem Verhalten, seinen Reaktionen, seiner Musik. Öfter, in glücklichen Momenten, konnte man die merkwürdige Einheit von deutlich-hellwacher Präsenz und gelöst-freiem Schweben erfahren, die er zu erstreben schien, ohne dabei naheliegende Abgründe verschwinden zu machen. In seinem auch zahlenmäßig nicht geringen Oeuvre dürfte sich etliches finden, das diese Einheit als gelungene aufweist.

Bredemeyers Musik tendiert zur Kürze – auch seine größeren Werke sind nur aus vielen Teilen zusammengesetzte, seine Oper „Candide“ steht dem Prinzip der Nummernoper näher als dem durchkomponierten Musikdrama. Dennoch neigt sie kaum zur Aphoristik. Sie baut sich vielmehr das Umfeld mit, an dem die Prägnanz einer Formulierung, einer Geste erst gemessen wird. Dabei erscheinen derartige Gesten eher behutsam, seltener mit Nachdruck, um sie ja nicht in die Nähe dessen geraten zu lassen, was ihm als „bedeutungsschwangere“ Musik zutiefst suspekt war (von daher erklärt sich wohl auch seine wachsende Bewunderung – vorsichtig – für Cage und – ziemlich emphatisch – für Feldman). Aus der europäischen Tradition waren ihm vor allem Mozart und Webern Fixpunkte. Entwicklungen interessierten ihn weniger. Er legte sich frühzeitig so etwas wie eine musikalische Sprache zurecht, die als Umfeld fungierte, in welchem die treffenden Gesten, Formulierungen zu finden waren, eine Sprache, die sich –lax gesagt – als eine Art Amalgam aus Webern und Strawinsky charakterisieren ließe. Frühzeitig auch schien für ihn dieser Sprache die Qualität des Selbstverständlichen zuzukommen, wodurch ihm schnelles Reagieren – bis hin zum  Politischen – ermöglicht wurde. Sein kompositorisches Risiko lag darin, daß für andere diese Qualität des Selbstverständlichen kaum gegeben war.

Mit alledem blieb er in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld ziemlich fremd. Die unmittelbaren Nachkriegsjahre in München waren ausgefüllt durch Nachholen des in der Nazizeit Versäumten. Die ersten Jahre der sich formierenden Bundesrepublik bereiteten ihm politisches und ästhetisches Unbehagen: da spukte zuviel restaurativer Geist. So wechselte er Mitte der fünfziger Jahre nach Ostberlin, eine tatsächliche neue sozialistische Gesellschaft noch für möglich haltend. Als Komponist indes war er in der DDR von Anfang an ein Fremder (die Musik Weberns – auch Strawinskys – galt als Zerfallsprodukt bürgerlicher Verkommenheit). Dank Paul Dessaus Einsicht fand Bredemeyer Arbeit als Schauspielkomponist (zunächst an einem Jugendtheater, dann – bis 1994 – am Deutschen Theater Berlin). So hatte er wenigstens keine ernsthaften ökonomischen Sorgen. Nach dem Mauerbau waren auf lange Jahre alle Chancen verbaut, als Komponist eben nicht nur von Bühnenmusik in Erscheinung zu treten. Das hat bei ihm tiefe Spuren hinterlassen: eine gewisse Verbitterung wich nie mehr ganz von ihm, auch nicht, als sich im Laufe der siebziger Jahre allmählich Aufführungschancen ergaben.

Fast schon paradox, daß Bredemeyer in jenen Jahren dennoch zur DDR stand, obschon er sich über deren Schwachsinn zunehmend weniger Illusionen machte. Das belegen nicht nur jene gelegentlich öffentlich gewordenen kleinen „Politskandale“, mit denen er sich immer wieder Ärger einhandelte. Mehr noch stehen dafür manche „natürlich“ nicht veröffentlichten Arbeiten. So erinnere ich mich an eine Komposition aus den siebziger Jahren, zu der ihm Thomas Körner einen Text geschrieben hatte. „Kleineres Rahmenprogramm“: die Absurdität staatsoffizieller Feierkultur wurde zur vernichtenden Selbstdecouvrierung getrieben. Nach dem Verschwinden der DDR interessierte das wiederum kaum jemanden. Er selbst genierte sich, auf seine alten Kühnheiten hinzuweisen: sie waren ihm viel zu selbstverständlich. Eher regte er sich über aktuelle bundesrepublikanische Peinlichkeiten auf (Bad Kleinen zum Beispiel). Seine „Heimkehr“ in die Bundesrepublik ohne Ortswechsel bereitete ihm nicht nur Freude: er war auf andere Weise abermals ein Fremder.

Reiner Bredemeyer – 1929 geboren in Kolumbien, lebte von 1931 bis 1995 in verschiedenen Deutschlands, nie ganz zu Hause. Ich trauere um einen guten Freund.

23. Dezember 1995

Gerhard Müller

Neues Deutschland

8. Dezember 1995

Zum Tode des Komponisten Reiner Bredemeyer

Er konnte alles, außer nach Noten schwindeln

Es ging rasch, zu rasch, wie alles in seinem Leben. Die schlimme Nachricht, die am 17. November kam: Krebs, inoperabel! empfing er ruhig, fast lächelnd. Als wäre es schon der Widerschein einer anderen Welt gewesen, denn hier, in dieser, hatte er eine panische Angst vor Ärzten, Krankenhäusern, medizinischem Gerät gehabt. Kurz beredete er das Notwendige, legte sich nieder und sprach von da an kein einziges Wort mehr. Als ich ihn noch einmal sah, lag ein jenseitiger Schimmer über seinen Zügen. Hager war er in den wenigen Tagen geworden, durchscheinend, durchgeistigt. Aus seinem Antlitz trat ein anderer mit bestürzender Ähnlichkeit hervor – der sterbende Heinrich Heine. Am nächsten Tag rief mich Ute, seine tapfere Frau, in Leipzig an: Es ist vorbei. Mein armer stiller Freund.

Wenn ich von diesem stillen, schmerzvollen Ende zurückgehe in die Tage unserer ersten Bekanntschaft – es muß zu Beginn der 70er Jahre gewesen sein -, dann sehe ich einen gänzlich anderen Menschen: Laut, lachend, schnell in den Bewegungen wie im Denken, voller Spott und Ironie, mit einem unbesiegbaren, starrköpfigen Gerechtigkeitssinn, den keinerlei Ideologie zu überwölben und zu verschatten imstande war. Wir begegneten uns zuerst auf einem der damaligen Kongresse des Komponistenverbandes, und für mich, der ich über die unendlich salbungsvollen Reden, deren Wiederabdruck aus aufklärerischen Gründen zu fordern wäre, für Zeitungen zu berichten hatte, war Bredemeyers Beitrag der einzige Lichtpunkt. Dafür stand er später auch in keinem Protokoll. Schlicht unterschlagen hatte man ihn mit der Begründung, es handle sich um keine Rede. Er zog einen Zettel aus der Tasche und sagte: „Ich verlese einen Rundbrief des Schweriner Bezirksverbandes an die Kulturfunktionäre des Bezirkes.“

In dem Brief aber stand in ungeschickten und lächerlich dummen Worten, daß der Klassenfeind auch vor der Musik nicht halt mache und in Gestalt des Stralsunder Dirigenten Peter Gülke und des unreifen Berliner Komponisten Friedrich Goldmann bis auf das Territorium der Volkswerft Stralsund vorgedrungen sei. Denn dieser Gülke habe vor Arbeitern mit Erfolg in einer Werkhalle Goldmanns avantgardistisches Orchesterstück

„Essay III“ aufgeführt und erläutert. Der begeisterte Beifall sei aber ein falscher gewesen. Solche Abweichungen vom rechten Bitterfelder Weg hätten künftig zu unterbleiben. Das Auditorium, solcherart mit dem wirklichen Mechanismus der Kulturpolitik konfrontiert, schwieg peinlich berührt. Ich ließ mir den Brief geben und druckte ihn im „Eulenspiegel“ mit einem bissigen Kommentar ab. So trat, notabene, die „Musik-Eule“ ins Leben, die von Rechts wegen auch zu den Erfindungen Bredemeyers und in die Paralipomena seines Werkverzeichnisses gehörte.

Es gab Gelächter, und Ärger, und dank Schwerin kam Goldmann ins Gerede, und die Aufführungen, die man verhindern wollte, fanden nach und nach alle statt. Das Pamphlet hatte sich dank Bredemeyers in eine Empfehlung verwandelt. Die Dinge in ihr Gegenteil zu verwandeln, das war ein Teil seiner Ästhetik. Man könnte sie untreudeutsch nennen.

Reiner Bredemeyer hatte damals ein Stück geschrieben, das ebenfalls für Aufsehen sorgte wegen untreudeutschen Umgangs mit der Klassik. Es hieß „Bagatellen für B.“, und B. hieß Beethoven. Das war eine respektvolle Choralfantasie über zwei Beethovensche

Klavier-Bagatellen. Doch bei Bredemeyer klangen die eher harmlosen Stücke aggressiv, zufahrend, kontrovers, und der Schluß verließ nicht nur den Notentext, sondern auch das Notenbild und endete mit einem aleatorischen Einstimmen auf den Ton b. Eine typische Assoziationskette: Wer a anstimmt, muß auch b anstimmen. Die Kritik tat, was ernst gemeint war, als einen ungehörigen Scherz ab. Auf diese wohlwollend niederträchtige Art wurde er oft missverstanden. Und in jenem Stück rächte er die Intelligenz an der Dummheit, das verlorene Herz an der kaltschnäuzigen Phraseologie.

Zu Hause in Müggelheim, wo er damals wohnte, trafen wir uns oft, ein kleiner, illustrer Kreis. Seine Nachbarn waren der Flötist Werner Tast, für den er zauberhafte Stücke schrieb, und der Grafiker Ingo Arnold, der damals die Porträts der führenden Politiker zerschnitt und mit Zwischenräumen wieder zusammensetzte, so daß man sah: In diesen Köpfen war nichts drin. Man zeigte sich gegenseitig die neuen Sachen. Bredemeyer hatte immer die meisten. Jeden Tag lag auf dem Klavier etwas anderes. Das änderte sich nicht bis zuletzt, und als er vor einem Jahr zu erblinden drohte, da hatte er sich mit Ute schon eine Art Blindennotenschrift erdacht, um die Produktion nicht einstellen zu müssen. Komponieren war seine Lebensform. Er dachte alles in Musik um. Auch die Zeitung. Dem alten „Neuen Deutschland“ widmete er eine Sinfonie, die hier niemals rezensiert wurde, weil sie nie aufgeführt wurde. Sie war aber überaus treffend. Ich entsinne mich noch an das Finale. Es war ein temperamentvolles Rondo für redaktionelle Streicher mit der merkwürdigen, die Pressepraxis persiflierenden Spielanweisung: Der Bogen bewegt sich einen Zentimeter über den Saiten.

Mit den Zeitungen hatte er es überhaupt, weil er mit seiner Zeit im Clinch lag. Er kam auf die Idee, statt subversiver Texte die offiziellen Nachrichten zu komponieren, um auf ihre oft überlesenen Merkwürdigkeiten sozusagen mit Pauken und Trompeten aufmerksam zu machen. Es begann mit der absurden Nachricht über das Verbot der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik“ wegen antisowjetischer Hetze. Er setzte sie für Männerchor und mehrere

(Post-)Hörner, mit der Nationalhymne am Schluß. Später folgte der klassische dreistufige Zyklus der Nachrichtentexte über den Abschuß einer südkoreanischen Linienmaschine über Sachalin, und schließlich eine Kantate über die mörderischen Vorgänge in Bad Kleinen. Das passte alles in keine Musiklandschaft, weder damals noch heute, und fast alles dieser Art ist nie erklungen. Er wollte die Musik umfunktionieren und mit ihr von der Ver-klärung zur

Auf-klärung fortschreiten. Das brachte ihm den Ruf ein, er sei als Musiker nicht ernst zu nehmen, und so waren seine Aufführungen selten. Als einen „musikalischen Chronisten“ verstand er sich, und die Fernsehnachrichten waren ihm Quelle der Inspiration.

Doch unter diesem Schlagwort lässt sich nicht alles subsumieren. Er war in erster Linie ein großartiger und empfindsamer Musiker. Ich denke, am schönsten sind ihm seine Vokalsachen gelungen. Für Sprache hatte er eine besondere Empfindlichkeit. Dem gesprochenen Klang suchte seine Musik genau zu folgen. Das Theater von Wolfgang Langhoff, Wolfgang Heinz, Benno Besson, also das Deutsche Theater zu Berlin, dessen Theaterkomponist und Kapellmeister er sein Leben lang war, hat ihn geprägt. Ich rede nicht von seinen oft exzellenten Theatermusiken, sondern davon, wie dieses musikalische Regisseurtalent auf Lyrik, Gedichte wie Prosa reagierte. Er hat viele Lieder geschrieben, nach Texten von Brecht, Heine, Rückert, Sarah Kirsch, Heiner und Inge Müller, Wolfgang Hilbig, Ingeborg Bachmann, und mehrere Bühnenwerke, darunter eine „Galoschenoper“ und „Candide“ nach Voltaire. Doch nichts ist so originell und kühn wie seine Liederzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“. Er wagte es, Schuberts Liederkreise noch einmal zu komponieren, weil er bei der Lektüre der Gedichte Wilhelm Müllers erspürte, daß hier mehr abgehandelt wurde als tragische private Liebesgeschichten. Hartnäckig polemisierte er im Freundeskreis gegen Schuberts Vertonungen und ihre esoterische Zurückgezogenheit, und natürlich gab ihm niemand recht. Er hatte es in Worten auch nicht. Aber seine Musik hatte recht. Sie öffnete uns eine andere, moderne, tragische, und doch nicht weniger romantische Welt. Inzwischen sind beide Zyklen viel gesungen worden, teilweise sogar zusammen mit denen Schuberts in einem Konzert, und wer sie je gehört hat, der wird nie wieder sich gedankenlos auf den Schubertschen Wellen des Gesanges treiben lassen können. Seine Arbeit hatte sogar verlegerische und germanistische Folgen. Es gab voriges Jahr in Berlin eine internationale Wilhelm-Müller-Konferenz, und die erste Gesamtausgabe der bis dahin nur schwer zugänglichen Dichtungen und Schriften Wilhelm Müllers ist inzwischen beim Gatza-Verlag erschienen.

Sich selbst blieb er treu. Moden haßte er und verweigerte sich ihnen. Liest man seine Partituren, dann stellt man erstaunt fest, daß er 1956 nicht anders komponierte als 30 Jahre später. Er konnte von Anfang an alles, außer nach Noten schwindeln und Effekte haschen. Sein Denken bewegte sich in abenteuerlichen Assoziationsketten, in Luftsprüngen des Gedankentums und logischen Durchquerungen der Logik. Das hatte er von Max Bense, Adorno, Walter Benjamin, Arno Schmidt. Das hatte er von seinem verehrten Lehrer Karl Amadeus Hartmann, und von dem Querkopf Paul Dessau, dessen Assistent er an der Berliner Schauspielschule einmal war. Reiner Bredemeyer verkörperte quasi als letzter Überlebender jene kompromißlose Widerstandskunst, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit aufblühte. Wenn ihm einer hätte nahe sein können, dann wäre es der Kölner Bernd Alois Zimmermann gewesen, der seinem mit der Zeit unvereinbaren Leben ein tragisches Ende setzte. Hinterließ uns Zimmermann gigantische Felsbrocken, die fremd in der Samtlandschaft unserer Musikkultur herumliegen, so streute Reiner Bredemeyer mit verschwenderischer Fülle kleine Kiesel und Splitterstücke aus, unter denen sich mancher noch unentdeckte Edelstein befindet.

Viele Bilder von ihm bewahre ich im Gedächtnis. Ich sehe ihn in seiner kleinen, von Plakaten bepflasterten Wohnung in der Berliner Friedrich-Engels-Straße, auf dem Sessel, vor den Reprints der Ossietzkyschen „Weltbühne“, an der Wand Ingo Arnolds Grafiken, im Bücherregal übergroß „Zettels Traum“ von Arno Schmidt; seine Brillengläser funkeln, er öffnet den Mund, um zu sprechen …

[ weitere Veröffentlichung in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 26, Berlin 1996, S. 46 ff.; dort mit Anmerkungen versehen und der Veröffentlichung des Autographs

„rauh an Rau“ (Geistliche Chormusik Nr.3)]

Frank Schneider

MusikTexte, Zeitschrift für Neue Musik, Heft 62/63,

Köln, 1996, S. 26.

Blitzend

Man begegnete Reiner Bredemeyer selten, ohne daß er – stolz und verlegen zugleich – etwas soeben Komponiertes aus der Tasche zog. Ehe sich entziffern ließ, worum es sich handelte, durchflog er selbst den Notentext, gab Begründungen und Hintergründigkeiten preis, verwies auf klangliche Capricen oder Sottisen und brachte durch pralle Bonmots den Erfahrungs-Grund seiner Musik auf einen präzisen Begriff. Den kompositorischen Gehalt konnte auch er nicht eigentlich „erklären“, aber er hatte stets Argumente genug, um die Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit seines Produzierens zu suggerieren. Es kam zugleich aus cholerischem Affekt und kritischem Intellekt – aus einer chronischen Gereiztheit gegenüber den Fehlern des Weltlaufs und den Fallen des Alltags, die ihn zur künstlerischen Stellungnahme drängte. Jedoch beschied er sich nicht damit, sondern wendete den permanenten Überschuß seines polemischen Potentials mit Lust an alles und gegen jeden, der ihm in die Quere kam.

Seine enorme Belesenheit erstreckte sich ebenso auf musikgeschichtliche Traktate wie auf politisch-aktuelle Panegyrik; und welcher Theoretiker auch immer ihm leibhaftig begegnete – er musste damit rechnen, von „Brede“ ohne Vorwarnung scharfzüngig und schonungslos kritisiert zu werden, wenn er sich in dessen Augen logischer Inkonsequenzen oder sprachlicher Unklarheiten, gedanklicher Schwiemeleien oder philologischer Schludereien schuldig gemacht hatte. Vor allem die Musikologen des „Sozialistischen Realismus“ mit ihrer scholastischen Systemhuberei entgingen kaum seinem ätzenden Spott, und vor allem in unzähligen Sitzungen der verschiedensten Gremien des Komponistenverbands zitterten die Leitungen, wenn er sich zu Wort meldete, und freuten sich „klammheimlich“ jene Teilnehmer, die zu feige waren, seine oft scharfen rhetorischen Attacken offen zu unterstützen. „Brede“ ähnelte dem Ereignis eines reinigenden Gewitters, das nach lethargischer Schwüle freier atmen ließ. Seine musikalischen und verbalen Blitze veränderten die Landschaft – aber als sein Land, blitzartig gewendet, nicht mehr wiederzuerkennen war, wollte sich plötzlich auch niemand mehr getroffen fühlen. Trafen sie – am Ende – nur mehr ihn selbst?

Jürg Stenzl

Frankfurter Allgemeine Zeitung

7.12.1995

Standhaft und frech Einspruch erhoben

Gebrauchsmusik ohne Qualitätsverlust: Zum Tod des Komponisten Reiner Bredemeyer

„Die Winterreise“ von Wilhelm Müller ist längst kein Gedichtzyklus mehr, sondern durch Franz Schuberts Vertonung ausschließlich Musik, ein Liederzyklus. 1984 hat der Komponist Reiner Bredemeyer Müllers Werk ohne Schuberts Töne gelesen und komponiert. Als scharfsinniger Künstler, als Intellektueller in der DDR erkannte er in Müller den Gleichgesinnten, einen politisch hellen Kopf im Lande der Metternich-Zensur, der durch die Blume konkrete Wahrheiten trotzdem zu sagen suchte: „Vielleicht sind die vielen Fragezeichen – 25 Stück! – die den Müllerschen Text durchwuchern, so verdammt zeitgenössisch und uns not-wendig vertraut. Der tödliche Ernst der Situation, in der sich der ‚Reisende’ permanent befindet, duldet selten temperamentvollen Widerspruch (Kontrapunkt)“, schrieb Bredemeyer zu seiner „Winterreise“ für Bariton, Horn und Klavier und fügte hinzu: „Die elegische Privatgeschichte, die Franz Schubert exzellent nachempfunden hat, wollte ich nicht repetieren. Meine sicher durch die DDR geprägte Lesart dieser Flucht eines gefeuerten Liedermachers (Wolf Biermann!) muß, glaube ich, sehr, sehr trocken, absolut unbedauernd und distanziert sachlich, nicht einmal anklagend vorgestellt werden.“ In Bredemeyers „Winterreise“ – wie auch wenig später in der Vertonung von Müllers „Die schöne Müllerin“ – kreuzen sich Bredemeyers Lebenswege, die künstlerischen wie die politischen.

Der 1929 Geborene wuchs in Breslau auf, lernte die Volks- und Realschule als „tiefbraune“ kennen, entwickelte rasch Abneigungen gegen die von Günther Bialas mit der Spielschar einstudierte passende Musik. Fünfzehnjährig wurde er 1944 als Soldat eingezogen, in den letzten Kriegswochen verschlug es ihn nach Österreich und Bayern. In einem süddeutschen Schloß der Thurn und Taxis traf er aufs exilierte Frankfurter musische Gymnasium, das, unter Kurt Thomas’ Leitung und unter SS-Schutz, Beethovens Violinkonzert aufführte. Bereits für den noch nicht Volljährigen hatte Musik, auch die ihm bisher allein bekannte „Klassische“, ihre Unschuld verloren. In München konnte er das Abitur nachholen, kam früh in den Kreis von Karl Amadeus Hartmann. Dort lernte er endlich Neue Musik kennen: Strawinsky und Bartók, Webern genauso wie Varèse, Ives und Satie. In München wurde er auch zum Theatermenschen, Theatermusiker. In München aber erkannte er außerhalb von Hartmanns Kreis vornehmlich Anpassertum und keinen glaubhaften Willen, radikale Alternativen zur jüngsten deutschen Vergangenheit zu entwickeln.

Bredemeyer wählte 1954 bewußt das „andere“ Deutschland, studierte an der Berliner Akademie der Künste und gehörte zum engen Kreis um Paul Dessau. Seine ersten Schwierigkeiten erfuhr er bereits am Ende des Studiums, als Hanns Eisler gegen sein Quintett Bedenken erhob. Angesichts der spätmodernen und mild neoklassizistischen Tendenzen und den Damoklesschwertern „Modernismus“, „Formalismus“ und „bürgerliche Dekadenz“, welche die deutschen Stalinisten schwangen, erschien ein Bredemeyer, der bei Webern, Schönberg und der musikalischen Präzision von Strawinsky ansetzte, als eine Gefahr, der die Kulturhüter bis Ende der sechziger Jahre mit konsequenter Nichtaufführung begegneten. Bredemeyer ging es um eine Musik, die bei den Großen der Neuen Musik ansetzte. Den Bruch mit diesen Vätern in Darmstadt vollzog er nicht mit. Aber er widersetzte sich der Regression jener Lehrergeneration, die problemlos überwintert hatte: Egk und Wagner-Régeny, dessen „Meisterschüler“ er gewesen ist. Mit den Brecht-Musikern teilt er die Überzeugung, daß ein Komponist jederzeit gebrauchsgerechte Musik ohne Abstriche an künstlerischer Qualität liefern sollte. Von 1957 bis 1960 wirkte er als Komponist im Berliner Theater der Freundschaft, 1961 wechselte er an das Deutsche Theater, wo er über Jahrzehnte die Bühnenmusik komponierte.

Als um 1970 eine neue Komponistengeneration, Musiker wie Friedrich Goldmann und Friedrich Schenker und das Ensemble „Neue Musik Hanns Eisler“, sich mühsam durchzusetzen begannen, durfte auch von Bredemeyers inzwischen enorm angewachsenem Oeuvre einiges erklingen und bei Peters gedruckt werden: Man lernte die ersten, ebenso kraftvollen wie kontrastreichen Klavierstücke von 1955 und 1957 kennen, und seine geistreich-witzige Beethoven-Hommage „Bagatellen für B.“ wurde sogar eine Art Erfolgsstück. Schließlich gelangte 1986 sogar seine Voltaire-Oper „Candide“ in Halle auf die Bühne, und seine Vertonung von Brechts „Neinsager“ erklang in Stuttgart.

Vom bayerischen Regen war Bredemeyer seinerzeit in die ostdeutsche Traufe gelangt – doch einschüchtern ließ sich dieser rebellische, künstlerisch wie politisch so ungemein hellhörige Kopf nie. Als 1989 selbst die Komponistenverbandsgeneräle der DDR schlagartig verschwanden, als es keinen sichtbaren Gegner mehr zu geben schien, gab es auch niemanden mehr, der an Bredemeyers Musik Interesse gezeigt hätte. Jetzt erst setzte Bredemeyers schwerste Zeit ein: Seine Musik wurde, ohne daß sie auch nur angesehen worden wäre, selbst in den Neuen Bundesländern als DDR-Schutt entsorgt. Man bearbeitet hüben wie drüben heute lieber Schubert oder Schumann, als sich auf Bredemeyers Müller- und Heine-Kompositionen einzulassen. Es fällt schwer, angesichts dieses aufrecht verbrachten Komponistenlebens, das am 5. Dezember in Berlin unerwartet endete, nicht in einen Anklageton gegen das deutsche Musikleben und seine Verantwortlichen zu fallen.

Mit Schärfe und Pfiff, ganz undeutsch witzig und heiter, frech und genau wie Villon und Heine, die er wie Arno Schmidt liebte, hat sich der Komponist Reiner Bredemeyer mit seiner Musik überall eingemischt, hat gerade dann Einspruch erhoben, wenn für ihn selbst nichts zu holen war.